Vor 70 Jahren wurde Gandhi ermordet

Am 30. Januar 1948 wurde Mahatma Gandhi auf dem Weg zu seiner Abendandacht ermordet. Eine der faszinierendsten und bedeutendsten Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts zahlte so mit seinem Tod für seinen unermüdlichen gewaltfreien Einsatz. Es ist wohl hauptsächlich Gandhi zu verdanken, dass das riesige britische Kolonialreich in Indien nicht in einem mörderischen Befreiungskrieg in Schutt und Asche versank – eine erstaunliche und noch viel zu wenig gewürdigte Leistung  Gandhis – vor allem wenn man sich die unzähligen verlustreichen Bürgerkriege in der heutigen Welt, in Syrien, Irak, Afghanistan, Ukraine usw vor Augen hält!

Gandhi – der erste Experimentator mit aktiver Gewaltfreiheit

Schon in seinen jungen Jahren als Anwalt in Südafrika realisierte Gandhi, dass angesichts der Unterdrückung der indischen Minderheit durch die Buren Gewalt die Lage nur verschlimmern würde. Sein Schlüsselerlebnis geschah, als er nachts als gutausgebildeter Rechtsanwalt aus einem den Weissen vorbehaltenen Zugsabteil geschmissen wurde. In eisiger Kälte musste er auf dem Bahnsteig den Morgen erwarten. Unauslöschlich prägte sich ihm diese Nacht ein, und bewirkte, dass er sich fortan  unbeugsam gegen alle Arten von Diskriminierung wehrte, und dafür auch bereit war, ins Gefängnis zu gehen. In Südafrika entwickelte er seine Instrumente des gewaltfreien Widerstandes: Nichtzusammenarbeit mit dem Übel notfalls auch durch gezielte Gesetzesübertretung (Zivilen Ungehorsam). Und Bereitschaft, lieber selber Gewalt zu erleiden als Andern Gewalt zuzufügen. 1907 – 1914 eskalierte der Kampf um eine horrende Kopfsteuer und um die Aberkennung indischer Ehen. Gandhi organisierte einen illegalen Marsch Hunderter indischer Frauen über die Grenze nach Transvaal, um die dortigen Bergleute zum Streik aufzufordern. Ihre Massenverhaftung löste eine breite Empörungswelle aus, die in der Festnahme von 2000 Streikenden gipfelte, darunter auch Gandhi. Dies brachte schliesslich den Durchbruch. Um solche Gefängnisstrafen bestehen zu können, gründete Gandhi seine Ashrams. Diese Lebensgemeinschaften erlaubten ihm, möglichst unabhängig zu sein, und auch für seine Familie den nötigen Rückhalt zu finden.

Gandhi und der indische Unabhängigkeitskampf

1916 kehrte Gandhi nach Indien zurück. Nach einem Schweigejahr schloss er sich dem Kongress, der indischen Unabhängigkeitsbewegung an, und versuchte, seine Satyagraha-Strategie des gewaltfreien Widerstands auch gegen die britische Fremdherrschaft einzusetzen. In immer neuen Anläufen initiierten Gandhi und seine Kongressanhänger etwa alle 10 Jahre grosse Protestbewegungen: Der Aufruf zu einem Hartal (Fasten und Reinigungstag), zur Verweigerung der Zusammenarbeit mit Gerichten, Universitäten, Staatsverwaltung, und zum Boykott britischer Stoffe, die die einheimische Textilindustrie ruinierten  – grosse Verbrennungen englischer Stoffe und Kleider auf öffentlichen Plätzen wurden inszeniert – beantworteten die Briten mit brutaler Repression: In Amritsar schossen die Truppen in die wehrlose Menge und hinterliesseen 379 Tote. Eine nächste Kampagne plante einen Steuerstreik in Bardoli. Als aber Gewaltausbrach und die aufgebrachte Menge aber Polizeiposten in Feuer aufgehen liess, sodass über 20 Polizisten ihr Leben verloren, blies Gandhi die ganze Kampagne ab. Denn – so seine Überzeugung –  solange die Inder ihre Emotionen nicht in Schach halten konnten, und die Polizisten als Feinde betrachteten, war die Bevölkerung nicht reif für die Freiheit.

1931 bildete die berühmte Salzkampagne einen nächsten Höhepunkt: Als Auftakt unternahm  Gandhi den langen Salzmarsch über 241 Meilen von seinem Ashram in Ahmedabad bis zum Meer, um dort symbolhaft das Salzmonopol der Engländer zu brechen.Tausende erwarteten Gandhi am Strand. Als er illegal eine Handvoll Salz auflas wurde dies zum Fanal durchs ganze Land. Überall begannen die Leute, selber Salz zu gewinnen und zu verkaufen. Seine Anhänger – Gandhi war inzwischen wieder einmal in Haft – führten am Höhepunkt mehrere Hundert Satyagrahi (=Gewaltfreie) in disziplinierten Reihen schweigend zu einer Salzmine, um sie in  Besitz zu nehmen. Reihe um Reihe wurde von den Polizisten mit Knüppeln niedergemacht, die Schwerverletzten von HelferInnen geborgen – ohne dass die Reihen schwankend wurden und zurückwichen. Dieses unglaubliche Ereignis ging dank zweier Reporter um die Welt, und löste eine Welle der Entrüstung aus.

Nach 6 Jahren Haft wurde Gandhi aus dem Gefängnis entlassen. Aus dem 2. Weltkrieg ging das britische Weltreich zwar als Sieger hervor, es war aber geschwächt. Es war klar, dass die Kolonialzeit zu Ende ging. Obwohl die Roundtable-Konferenz in London ergebnislos verlief, wurde immer deutlicher, dass die Unabhängikeit Indiens nur eine Frage der Zeit war. Das grösste Problem stellten die Ansprüche der Moslems dar: Die Moslem-Liga unter Jinnah wollte keine gemeinsame Nation, sondern zwei getrennte Staaten. Gandhi war strikt gegen jede Trennung, und betonte, solange Hindus und Moslems nicht wie Geschwister zusammenzuleben verstünden, sei es zu früh für die Freiheit. Zu seiner Enttäuschung wurde er von Nehru und den andern Kongressführern überstimmt, und im August 1947 erhielten Indien und Pakistan die Unabhängigkeit.

Die Feindseligkeiten zwischen den beiden Religionen nahmen zu. In Noakhali, in Kalkutta, in Delhi kam es zu Ausschreitungen und  Massakern an den religiösen Minderheiten. Mit seinen 78 Jahren machte sich Gandhi nochmals auf, ging in die zerstörten Häuser und aufgebrachten Mengen, und versuchte, dem Hass und Wüten Einhalt zu gebieten. Und schliesslich griff er zu seinem stärksten Mittel: Fasten bis zu Tod. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Massen und vermochte nochmals, dass die Heisssporne beider Seiten sich versöhnten, und ihre Waffen vor Gandhi niederlegten.

Gandhis Vision einer demokratischen Gesellschaft der Zukunft

In allen möglichen Lebensbereichen experimentierte Gandhi und versuchte neue Wege zu gehen: In der Ernährung, Medizin, Erziehung, in der Gleichstellung der Frau, gegen Kastenwesen etc. Schon früh realisierte er, dass ein Agrarland wie Indien vor allem seinen Millionen von Bauern und Handwerkern  einen sicheren Erwerb bieten muss. Im Gegensatz zur kommunistischen Planwirtschaft mit ihrer Industrialisierung entwarf er  in seiner Schrift ‚Selbstherrschaft in Indien‘ eine Vision dezentraler selbstverwalteter Dörfer. Diese würden sich mit einfachsten landwirtschaftlichen und handwerklichen Mitteln möglichst weitgehend selber versorgen. Und in gemeinsamen Dorfräten selber ihre Geschicke bestimmen. Täglich sponn Gandhi sein Garn am Spinnrad als sichtbares Zeichen dafür. Und er unterstrich: Je mehr die Menschen bereit sind, mit ihren eigenen Händen zum Lebensnotwendigen beizutragen, desto weniger braucht es die  Industrieproduktion mit ihrer Plackerei und ihren Maschinen. Eine Sicht, die heute angesichts der Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit, aber auch weltweiter Dominanz des Kapitals ungeahnt modern und zukunftsgerichtet wirkt!

Die Wahrheit ist Gott

Gandhi war tief ein religiöser Mensch. Als Hindu entdeckte er schon während seines Studiums auch andere Religionen, und lernte sie schätzen. Zeit seines Lebens blieb er deshalb offen für andere Religionen. Wichtig war ihm die Suche nach Wahrheit, und die Kraft, aus der religiöse Menschen schöpfen, um Hass mit Liebe zu beantworten, und notfalls für andere Menschen das eigene Leben hinzugeben. Den Satz ‚Gott ist Wahrheit‘ wandelte er deshalb um in ‚Wahrheit ist Gott‘

Die bleibende Bedeutung von Gandhi

Mit seinen Kampagnen gewaltfreien Widerstandes hat Gandhi der Menschheit pionierhaft einen neuen Dritten Weg des Umgangs mit Konflikten und Gewalt eröffnet. Zum erstenmal in der Geschichte hat Jemand so systematisch, klar und wohlorganisiert gewaltfreie Kampagnen entwickelt und durchgeführt. Er inspirierte damit viele herausragende Kämpfe in der Neuzeit: Die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King. Die Rettung von 4-5000 jüdischen Verfolgten unter den Nazis durch das französische Dorf  Le-Chambon -sur-Lignon im 2.Weltkrieg. Den Prager Frühling 1968, Solidarnosc in Polen. Den Sturz der Marcos-Diktatur 1985 auf den Philippinen, 1989 die Wende in Osteuropa, den Sturz von Milosevic, den arabischen Frühling usw. Nicht alle Widerstandbewegungen waren gleich klar und gleich erfolgreich. Aber nicht auf den Erfolg kommt es an, sondern darauf, dass Menschen aufstehen, sich auf den Weg machen, gegen Unrecht nein sagen, sich wehren. Gandhi lehrte uns die grundlegende Einsicht: Wo viele ihre Zusammenarbeit mit dem Übel verweigern, und ihre Macht in die eigenen Hände zurücknehmen, fällt die Macht der Herrschenden in sich zusammen. Und wo Leute bereit sind, für ihre Überzeugung einzustehen, Sanktionen oder sogar Gefängnis und Verfolgung auf sich zu nehmen,verlieren die Drohmittel der Mächtigen ihre Macht. Freiwilliges Leiden ist keine Schwäche, sondern kann eine Kraft entfalten,  Ansporn sein für andere, sich anzuschliessen. Wo dies gewaltfrei geschieht, unter Verzicht auf Feindbilder, Hass und Drohung, sondern aus einer Haltung heraus, die im Feind den Menschen sieht, den es zu überzeugen und gewinnen gilt, kann sich eine konstruktives Klima des Dialogs bilden. Dann geht es nicht mehr um Sieger und Verlierer, sondern um die Frage: Wie kann auch meine Unterdrücker befreit werden? Wie kann ich aus meinem Feind  einen Freund machen.

Diese unvergängliche Botschaft Gandhis, die schon in praktisch allen grossen Religionen angelegt ist, könnte gerade in der heutigen, zerrissenen Welt mit ihren vielen Kriegen enorm hilfreich sein.

Bisher haben sich aber hauptsächlich  zahlenmässig kleine Friedensbewegungen wie War Resisters Int. oder IFOR ( Int. Fellowship of Reconciliation) usw darum bemüht, Gandhis Erfahrungen für ihr eigenes gewaltfreies Handeln fruchtbar zu machen. Immerhin ist gegenwärtig in Indien unter dem Namen Ekta Parishad eine breite Volksorganisation von Landlosen  aktiv geworden, angeleitet vom Gandhi-Nachfolger Rajagopal. Umso bedrängender aber, dass Gandhi‘s gewaltfreier Weg bisher noch kaum ernsthaft erforscht, geschweige denn in aktuellen Konflikten angewendet wird. Nicht zuletzt die christlichen Kirchen, deren Evangelium sie ja zur Gewaltlosigkeit verpflichtet, haben sich noch kaum die Mühe gemacht, diesen ‚Schatz im Acker‘ zu heben und Gandhis und M.L.Kings  Vermächtnis der Welt zu schenken.

Ueli Wildberger

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert