Beitrag an der Tagung aus Anlass des 100. Geburtstags von Jean Goss, Innsbruck, 8. Juni 2012.
Ich wurde gebeten, etwas zu IFOR zu sagen. Angesichts der Lage von IFOR und der Welt, möchte ich das in zwei Teilen tun. Ich werde hier keine Analyse bieten, aber einige Umrisse und wichtige Punkte skizzieren.
1. Etwas zu IFOR:
Die IFOR Bewegung entstand in der Folge einer internationalen kirchlichen Friedenskonferenz 1914, also am Vorabend des 1. Weltkriegs, in Konstanz. Die Kirchen wollten die europäischen Regierungen drängen, einen Krieg zu verhindern. Zwei Dinge bleiben heute oft unbeachtet:
- Die internationale pazifistische Bewegung – nicht ohne historischen Zusammenhang mit der internationalen anarchistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts – war zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark und profiliert. Es gibt heute Wissenschafter, die sagen würden, dass der erste Weltkrieg nicht trotz den kirchlichen Bemühen ausbrach, sondern dass er gerade wegen der den Nationalstaaten allzu stark gewordenen Basisbewegungen für Demokratie und Frieden angezettelt wurde
- Dass man vom 1. Weltkrieg spricht statt von einem 1. europäischen Krieg verrät eine bestimmte Weltsicht: Europa hielt sich für die Welt, und ausserhalb ihrer gab es kaum etwas nennenswertes ausser zu erobernde Territorien und zu erschliessende Ressourcen.
Wie dem auch sei, 1919 war die Bewegung des Versöhnungsbundes so stark angewachsen, dass eine internationale Vereinigung – heute würde man es Netzwerk nennen – ins Leben gerufen wurde. Die Welt war damals sehr dünn besiedelt mit internationalen Einrichtungen und IFOR war eine ansehnliche und angesehene Einrichtung, weit vernetzt. Somit war sie bei den ersten, die bei der UNO offiziellen Status hat als Nichtregierungsorganisation. Diese Verantwortung wurde aber in den letzen Jahren sehr vernachlässigt und zählt heute meines Erachtens zu den wichtigsten Aufgaben von IFOR. Denn die rund 80 IFOR Zweige und Gruppen in rund 50 Ländern brauchen eine gemeinsame Stimme bei den Vereinten Nationen, deren Zweck es ja von Anfang an war, Krieg zu verhindern und Verständigung zu fördern.
Es ist hier nicht der Ort und die Zeit, von der phantastisch kreativen, mutigen und auch fruchtbaren Arbeit zu berichten, die IFOR Gruppen in vielen Ländern ausrichten: Menschenrechtsförderung, Friedensbildung, Trainings für Gewaltfreiheit, Widerstand gegen Unrecht, und Versöhnungsarbeit unter schwierigsten Bedingungen.
Das internationale IFOR Sekretariat in Alkmaar, NL, hat die Aufgabe, die Gruppen zu verbinden, Kommunikation und Austausch zu fördern und eben internationale Aufgaben wahrzunehmen im Auftrag seiner Mitglieder.
Das alles klingt wunderbar und gut, doch es kann nicht verheimlicht werden, dass IFOR, wie die meisten Vor- und Nachkriegseinrichtungen, einschliesslich des Systems, welches von Europa und Nordamerika durch viele Kriege aufgebaut und konsolidiert worden ist, in einer tiefen Krise steckt. Das ist nicht neu, aber es ist nun soweit, dass wir endlich aus dieser Krise zu einer neuen Gangart finden müssen und neue Formen, wenn wir IFOR als Einrichtung nicht verschwinden sehen wollen.
Sosehr IFOR mit am Herzen liegt, muss ich doch sagen, dass es letztendlich nicht um IFOR als Einrichtung geht, sondern es geht um die Liebe, die Gewaltfreiheit und Versöhnung, und deren Verbreitung in einer Welt, sie so sehr hungert danach.
Strukturen und Einrichtungen müssen sich ändern, wenn sie ihrer Berufung treu bleiben wollen. So wird das Women Peacemakers Program, welches nicht nur das programmatische Flaggschiff von IFOR, sondern letzthin seine einzige Aktivität war, auf Ende Jahr selbständig werden. Noch wissen wir nicht, wo das Sekretariat von IFOR nächstes Jahr sein wird. Aber wir wissen, dass wir, d.h. vor allem die Zweige Österreich, Deutschland und Schweiz, die 100-Jahr-Feiern von 2014 in Konstanz planen werden. Diese Feiern fallen zusammen mit dem Beginn der 4 Jahre dauernden Anlässe rund ums Konstanzer Konzil von 1414 – 1418. (Auch das ein Teil einer gewaltigen Geschichte) 2014 ist auch eine Delegiertenversammlung von IFOR (Council) fällig. Das Jubiläum ist uns nun auch Anlass, die Geschichte von IFOR aufzuarbeiten und sichtbar zu machen, denn sie ist weit und breit unbekannt. Doch heute sind Menschen an Gewaltfreiheit, an Gemeinschaft und Mystik interessiert wie kaum zuvor oder jedenfalls wie schon lange nicht mehr.
2. Einige Beobachtungen zur Lage der Welt und zur Herausforderung für IFOR – für die Bewegung der Gewaltfreiheit.
Die Gewaltfreiheit ist nicht von unserer Generation erfunden worden, auch nicht von der unserer Eltern, aber es ist unsere Verantwortung, sie heute sichtbar und greifbar zu machen, ihr ihre historische Dimension, aber auch ihre Kraft und ihre Bedeutung für die Zukunft – unserer Kinder und Grosskinder – zuzugestehen.
Es genügt aber nicht festzustellen, dass Gewaltfreiheit heute und morgen so dringend und von grösster Bedeutung ist, wie zur Zeit als Jean Goss sie entdeckte – oder noch mehr.
Es genügt auch nicht festzustellen, dass sowohl die Mystik und die aus ihr erwachsene Aktion so sehr gesucht wird und wahrhaftig hilfreich wäre. Denn das war Jean Goss wie wir gestern mehrfach gehört haben: Mystiker und Aktivist.
Das Dilemma bzw. die Dychotomie ist mindestens so alt wie die Evangelien: Einige ziehen sich aus der Welt zurück in die Kontemplation, Andere laufen sich die Füsse, die Köpfe und die Herzen wund in Aktivismus.
Es gibt sie, die Verbindung zwischen Mystik und Aktion. So zum Beispiel in Richard Rohr’s Center for Contemplation and Action in New Mexico. Es gab sie in der Trappistengemeinschaft von Tibérine in Algerien. Es gibt sie in St.Egidio, in Bose, Italien, und an so vielen andern Orten. Der Zulauf, den der Film “Des hommes et dies Dieux” in Frankreich hatte, lässt nur erahnen, wie unheimlich tiefgreifend diese Sehnsucht in den Menschen steckt. Der Zulauf und das Interesse, den St.Egidio, Bose, und andere solche Kommunitäten erfahren, sagt uns dasselbe.
Wann immer die Welt in sich zusammen zu brechen scheint – und das war der Fall am Vorabend des 1. Weltkrieges, und während dem 2. Weltkrieg, aber auch in andern entscheidenden Gesellschaftskrisen seither – bäumt sich eine Woge auf des Suchens nach Alternativen zu den offensichtlich versagenden Systemen.
Wir befinden uns heute in Europa nicht vor einem unmittelbar drohenden Krieg. Diesen haben die herrschenden Weltmächte längst nachhaltig in die ärmsten Regionen der Welt ausgelagert. Noch leiden wir unter einer ausweglosen materiellen Situation. Die meisten von uns brauchen heute nicht zu bangen, was sie morgen essen werden, oder was sie ihren Kindern morgen auftischen könnten.
Gesellschaftlich gesehen jedoch sind wir am Rande des Abgrunds angelangt. Alle wissen, so kann es nicht weitergehen, unser System hat ausgedient und wir wissen noch nicht, welches System es ersetzen wird, und unter welchen Umständen und eventuellen Schmerzen eine Ablösung stattfinden wird.
Auf erste Sicht ist der Militarismus und der Krieg nicht mehr, was sie einmal waren (Verteidigung oder Eroberung), aber bei genauerem Hinsehen kommt ihnen nach wie vor dieselbe Rolle zu wie schon immer: nämlich die der gewaltsamen Erhaltung der oft mit Gewalt und Unrecht errungenen Privilegien einer mehr oder weniger begrenzten Gruppe. Als Pazifisten sind wir Antimilitaristen; nicht einfach weil wir Gewalt verabscheuen oder sie vermeiden wollen, sondern weil wir die Ungerechtigkeit verabscheuen. Gerade die aber hat am stärksten zugenommen in der Welt. Seit der Gründung von IFOR hat sich nämlich die weltumspannende Finanzwelt klammheimlich eingerichtet und hat allmählich die Macht an sich gerissen und sich die Staaten hörig gemacht; und es hat gedauert bis wir uns gewahr wurden, was sich da abspielt.
Rein statistisch hat die physische Gewalt in den letzten Jahren klar abgenommen, mal abgesehen von den Suiziden (das ist eine andere Geschichte). Gleichzeitig haben sich die Militärausgaben in den letzten rund 10 Jahren mehr als verdoppelt. Mit andern Worten: noch nie gab es so wenig Grund, Kriege vorzubereiten, aber noch nie war der Aufwand dafür so gross. Da ist doch etwas faul! Währenddessen wird es immer unwahrscheinlicher, dass das Milleniumsziel, die Weltarmut um die Hälfte zu senken, auch nur annähernd erreicht werden wird. Die Verschuldung ist ins Unermessliche gestiegen, und zwar auf staatlicher und nicht-staatlicher Ebene. Man muss sich indessen fragen, ob Verschuldung nicht eher Taktik oder Strategie ist als Versehen oder Unglück.
Die physische Gewalt, die anerkannterweise eine Plage der Menschheit ist und unter der vor allem Frauen und Kinder leiden, ist unmittelbar verbunden mit der indirekten oder strukturellen Gewalt durch geplante und staatlich/polizeilich/militärisch geschützte Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit hat System in der Finanzapparaten, von wenige unglaublich viel, und wir andern mehr oder weniger profitieren, während der Grossteil der Menschheit weder Zugang hat noch mitreden kann.
Doch wir brauchen nicht zu verzweifeln. Im Gegenteil, die Sache der Wahrheit und der Gerechtigkeit ist auf guten Wegen – sie ist ja schliesslich auch nicht von uns allein abhängig: Einerseits ist in den letzten zwei Jahrzehnten durch allerlei Widerstandsbewegungen direkt und indirekt sehr vieles grundsätzlich in Bewegung geraten oder gar eingebrochen, von politischen Systemen über Machthaber bis zu Mauern. Andererseits gab es im kollektiven Bewusstsein noch nie ein so starkes Mitgefühl für Opfer der Gewalt. René Girard weist darauf hin, dass die Bibel das erste Zeugnis ist davon, dass das Opfer eine Stimme erhält. Dies ist heute weitgehend verwirklicht. Nie wurde soviel gespendet um Gutes zu tun. Nie zuvor sind Diktatoren von einem internationalen Gericht verurteilt worden wegen Völkermord. Wir sehen heute ein nie da gewesenes Ausmass an Verweigerung gegenüber ungerechten Mechanismen und Systemen, von Steuern über Militärdienst bis zu öffentlichen Diensten. Das sind gute Nachrichten.
Vieles liegt im Argen, die grosse nukleare Bedrohung ist nach wie vor nicht gebannt und hochverschuldete Länder wie Frankreich geben immer noch mehr Geld aus für nukleare Waffen und Atomenergie. Doch der Widerstand wächst auch da. Dieser Widerstand gegen alles, was Leben zerstört oder unmöglich macht ist weder zu stoppen noch rückgängig zu machen. Seien es Waffen, Banken, Einrichtungen oder auch Staaten. Auch die Finanzimperien sind nicht nur entlarvt, sondern sind am einbrechen. Wir Friedensleute haben die Tendenz, den Einfluss des Widerstandes zu unterschätzen, bis dahin, dass wir uns in unserer Minderheitsposition gefallen. Doch aufgrund der Kraft, auf die wir uns berufen sollten wir nicht unterschätzen, welche Auswirkungen unser gemeinsamer Einsatz haben kann!
Viele Debatten und Aktionen sind angelaufen und nehmen zu: Grundeinkommen, Entmilitarisierung, Décroissance, Slow Food, Occupy usw. Alles Dinge, die von unten kommen und zunehmend umgesetzt werden, manchmal abseits, manchmal trotz der Drohungen von direkter Gewalt.
Doch eines dürfen wir nicht vergessen: Pazifisten sind seit jeher verfolgt worden, schon zu biblischen Zeiten wie im Mittelalter. Egal welcher Religion oder Bevölkerungsschicht sie angehörten, Pazifisten stellen eine Gefahr dar für ungerechte Macht- und Gewaltsysteme. Die Bewegung ist viel breiter, viel weltumspannender, viel grösser und stärker als vor 100 Jahren. Natürlich ist sie auch verzettelter, weniger greifbar und noch weniger kontrollierbar. Sicher hat das seine Nachteile, aber wie gesagt, es ist nicht allein in unseren Händen.
Wie Gandhi festgestellt hat, ist gewaltfreier Protest vor allem deshalb effektiv (aber auch riskant), weil er das wahre Gesicht der Macht offenbart: er legt die Gewalt frei, welche die Macht einzusetzen bereit ist, auch gegen noch so friedliche Menschen, wo immer diese die moralische Legitimität der Macht in Frage stellen. Doch dadurch wird der ethische Bankrott derer offenbar, die den Anspruch erheben, über andere zu herrschen.
Nun aber zurück zur Mystik. In alledem hat die Mystik nicht den Zweck, sich aus der bösen Welt zu verabschieden und einem frommen und abgeklärten Glück zu fristen, sondern sie findet die Schöpfer- Erhalter- und Versöhnungskraft gerade dann, wenn die Situation unerträglich zu sein scheint. Daraus handelt sie und deshalb sind Mystik und Aktion nicht zwei parallel laufende Dachen, sondern die Aktion erwächst aus der Erfahrung der göttlichen Kraft der Liebe.
Was wir gerne vergessen oder übersehen: dass diese aus der Mystik erwachsende Aktion unweigerlich die zunehmend unfreundliche Aufmerksamkeit der Hüterin der jeweils bestehenden Ordnung auf sich zieht. Diese kann in Form eines Beamten oder eines wohlmeinenden Bürgers oder überaus wütenden Fanatikers – oft aus dem eigenen Lager, wie bei Gandhi oder bei Rabin – daherkommen. Deshalb ist so wichtig, was Gandhi klar sah: dass es Mut braucht und dass Feigheit abscheulicher ist als ein Akt der Gewalt.
Jesus sagte: die Liebe treibt die Angst aus. Es könnte sein, dass Angst uns eher davon abhält, die Wahrheit in Aktion umzusetzen, als mangelnde Erkenntnis. Wenn das so bliebe, dann würden die Apparate der Macht ihr Spiel gewinnen.
Jean Goss war befreit von Angst weil er liebte, und das machte ihn fähig, ein Apostel der Gewaltfreiheit zu sein. Möge dieser Geist uns, IFOR und die gesamte Bewegung um Gewaltfreiheit inspirieren und tragen.