Die Schönheit der Gewaltfreiheit und der Dienst der Versöhnung

Mt 5, 2-11; 2. Kor 5, 18-20

Anlässlich eines Besuchs in Serbien erzählte ich einer Kollegin, die stark in der Friedensarbeit engagiert war, dass ich beim Ökumenischen Rat der Kirche für die Dekade zur Überwindung von Gewalt arbeiten würde. Sie sagte: „Wie willst Du die Gewalt überwinden?“ Ich gab die Frage zurück: „Sag du es mir, du hast mehr praktische Erfahrung“. Sie überlegte eine Weile und antwortete dann: „Durch die Schönheit“.

Diese Worte haben mich bewegt seither. Um eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit aufzubauen, um die Wortwendung der UNO zu benutzen, brauchen wir mehr als Appelle, mehr als eine kohärente Friedenstheologie und mehr als Techniken. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen. Das Gegenteil von Gewalt ist nicht Frieden, sondern die Kraft der Güte und der Wahrheit, sowie Zärtlichkeit.

Die Weisheit der Welt behauptet, dass ohne Gewalt kaum etwas zu erreichen oder zu verteidigen ist. Das scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Doch wo sind alle die, die sich Ländereien, Herrschaft, Glanz und Gloria mit Gewalt erobert haben? Wo sind ihre Güter geblieben? Ganz zu schweigen von denen, welche auf solchen Eroberungs- und Raubzügen alles verloren haben oder umgekommen sind. In Politik und Wirtschaft gilt Härte und Selbstbehauptung. Einfluss, Macht, Güter, werden durch rhetorische, psychologische oder physische Gewalt erreicht. Das spottet jeder Schönheit, doch der Glaube an dieses zerstörerische Spiel ist stark und macht uns krank.

Wo Schönheit ist, da regt sich in uns Güte und Zärtlichkeit. Wo wir Zärtlichkeit spüren und Güte sehen, nehmen wir im innersten Schönheit wahr. Güte und Zärtlichkeit (Gütekraft) sind das Gegenteil von Gewalt und sie zeigen sich in ihrer Qualität vor allem im unausweichlichen Konflikt.

Jesus zeigt uns, welcher Weg zum Frieden führt: Die Kraft der Güte, motiviert durch die Liebe. Das setzt voraus, die Wahrheit zu erkennen und dazu zu stehen. Im Matthäusevangelium wird der Begriff, welchen Luther mit Sanftmut übersetzt (praus‘) und im Deutschen auch als Gütekraft bezeichnet wird, drei Mal benutzt. Weitere biblische Texte und ihr Kontext zeigen aber, dass weder der Begriff Demut noch derjenige der Milde präzise ist und der Radikalität Jesu entspricht. Ulrich Wilckens hat meines Wissens als erster den Begriff der Gewaltlosigkeit benutzt. Die Einheitsübersetzung hat diese Lesart übernommen. Doch da Gewaltfreiheit nicht wirklich Teil des traditionellen theologischen Vokabulars ist, ist es nicht erstaunlich, dass die Gewaltfreiheit als theologisches Konzept Mühe hat, sich durchzusetzen.

Nach der Bergpredigt benutzt Matthäus den Begriff prous‚ noch zwei Mal: In Mt 11.29 ermutigt Jesus die Menschen, von ihm zu lernen, denn er ist sanftmütig (gewaltfrei) und gütig. Jesus redet in einen Kontext hinein, der gekennzeichnet ist vom täglichen Überlebenskampf, der Besetzung des Landes, sowie die ungerechten und heuchlerischen Forderungen der religiösen Führungsschicht. Man kann in den Worten Jesu ein Stück buddhistischer Weisheit erkennen, wenn er anfügt: so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele – innerer Friede.

Etwas später, im Kapitel 21, berichtet Matthäus vom Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel. Hier benutzt er denselben Begriff noch einmal. Der Esel ist die offensichtliche Antithese zum Pferd des Kaisers oder des Eroberers. Jesus inszeniert sich als Anti-Kaiser, nicht weil er keine Autorität hätte oder keine Ansprüche, aber weil sein Vorgehen zutiefst gewaltfrei ist. Hier ist die Schönheit des Reiches Gottes sichtbar: Die Art Gottes, die niemandem etwas mit Gewalt entreisst, und doch alles verheisst: Lebensfülle, Friede, Freude, Gerechtigkeit.

Ein Beispiel von Schönheit und Güte findet sich in der Geschichte von Ismail Khatib aus Jenin, dessen Sohn Ahmed im Alter von 12 Jahren von israelischen Soldaten erschossen wurde. Ismail hat beschlossen, die Organe seines Jungen für die Transplantation an israelischen Kindern zur Verfügung zu stellen. Dieser Vater steht für jene, von denen Jesus in seiner Seligpreisung spricht.

Die Schönheit der Gewaltfreiheit, von der Jesus spricht, besteht darin: sie nimmt niemandem das Leben. Stattdessen öffnet sie neue Wege. Sie sucht die Gerechtigkeit für alle. Sie geht von dem aus, was ist, indem sie auf die Kraft der Wahrheit und der Güte und auf eine nachhaltige Zukunft setzt: diejenige des verheissenen Landes.

Das verheissene Land ist nicht ein bestimmter Flecken Erde für eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe. Es ein Ort der Beziehung und Gemeinschaft, wo Gerechtigkeit, Friede und Freude zu finden sind. Zudem ist diese Verheissung der hebräischen Bibel an Konditionen gebunden: sie setzt Taten der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit voraus, wie sie die alttestamentlichen Propheten so eindringlich fordern. Deshalb erfindet Jesus hier nichts neues, wenn er sagt, dass das Land/die Erde den Gewaltlosen gehöre. Er nimmt das wortwörtlich aus dem Psalm 37,11: DIe Gewaltlosen werden das Land besitzen, die werden in Frieden leben. Sicher ist die Demut ein wichtiger Teil der Gewaltfreiheit. Doch Gewaltfreiheit ist weit mehr: es ist der Mut und die Kraft der Wahrheit in der tätigen Liebe, die Güte und Zärtlichkeit. Eben die Schönheit…

Es sind wie zwei Achsen, welche das Zeugnis Christi in den Evangelien und im übrigen Neuen Testament durchziehen. Da ist einmal die Sanftmut/Zärtlichkeit/Gewaltlosigkeit und die Vergebung. Dann gibt es die Versöhnung, den Einbruch der Trennungsmauer (Epheser), die Annäherung derer, die bisher weit entfernt waren, und die Herstellung von Kommunikation und einer gerechten Beziehung. Nicht umsonst bedeutet das griechische Wort für Frieden Eirene „man redet miteinander“. Gott, der Schöpfer aller Dinge, ergreift die Initiative, stellt die Verbindung wieder her. Gott gibt sich selbst, in einer gewaltfreien Aktion, ohne jeden Zwang und ohne Gewalt. So wird Versöhnung möglich. Das ist es auch, was Ismail Khatib aus Jenin getan hat. Auch die Mönche des Klosters Tibérine, von denen der Film „Von Menschen und von Göttern“ erzählt, stellen diese Gewaltfreiheit und die Kraft der Wahrheit und Güte auf eindrücklichste Weise dar.

Der zweite Korintherbrief redet vom Dienst der Versöhnung, welcher offensichtlich die Motivation und Berechtigung der apostolischen und somit auch des kirchlichen Wirkens ist. Der Aufruf ist zweifach: lasst euch versöhnen und engagiert euch im Dienst der Versöhnung! Paulus spricht hier zwar von seinem Dienst, aber es ist logisch, diese Argumentation auf die ganze Kirche zu beziehen.

Das Zeugnis der Kirche durch die Jahrhunderte lässt einige Zweifel offen, was Gewaltfreiheit und Versöhnung betrifft: wie oft wurde im Namen einer Lehre oder der Macht Versöhnung verweigert und den Versöhnungsdienst in sein Gegenteil verkehrt. In jüngerer Zeit gibt es Gott sein Dank vermehrt Schritte der Versöhnung. Das ist entscheidend wichtig für dieses Jahrhundert, welches entweder blutiger sein wird als das vorige, oder, und das glaube ich, in welchem sich zunehmend das Werk Christi als das der Versöhnung und der Gewaltfreiheit durch die Kraft der Liebe entfalten wird. Wir haben jeden Grund, zuversichtlich zu sein für eine zwar weniger glorreiche Zukunft der Kirche im 21. Jahrhundert, aber eine umso mehr authentische, weil gewaltfreie.

Eine Kirche, welche jeden Tag Mitglieder und Finanzen verliert, wird ihre Bedeutung und Daseinsberechtigung insofern finden, wie sie sich in den Dienst des gerechten Friedens, der Gewaltfreiheit und der Versöhnung stellt und dies zu ihrer Priorität macht. Wenn Christen nicht an die Gewaltfreiheit glauben, so mögen sie gerade so gut noch heute die Kirche vergessen.

Die Dekade ist vorbei – es lebe die Gewaltüberwindung! Die Arbeit hat eben erst angefangen. Bis in der Theologie auf jede Rechtfertigung von Gewalt verzichtet wird, braucht es noch einiges! Doch es ist ja – zum Glück – heute nicht die Theologie, welche das Leben und Handeln von Menschen bestimmt. Vielmehr ist es die allgemeine Kultur, bzw. Ihre Abwesenheit oder Verzerrung. Beides wird durch Populismus verstärkt und durch die Medien vermittelt. Doch entgegen dem Eindruck, es gäbe immer mehr Gewalt, müssen einige erfreuliche Feststellungen gemacht werden: Opfer haben heute eine Stimme. Das Recht des Stärkeren wird zunehmend infrage gestellt. Transparenz wird zunehmend unumgänglich. Der Krieg, im letzten Jahrhundert noch absolut entscheidend, hat weitestgehend an Glaubwürdigkeit und Achtung verloren. Der Gewalt werden immer neue und schöpferische Dinge entgegengesetzt, im Geiste der Wiederherstellung statt Vergeltung und in interdisziplinären Ansätzen. Friedensaufbau, Konflikttransformation und Widerstand gegen Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen breiten sich aus in politischen Instanzen wie in akademischen Disziplinen.  Wie die Jünger zur Zeit Jesu müssen wir die Zeichen des nahenden Reiches Gottes erkennen.

Zu allen Zeiten hat das Evangelium Gesellschaften verändert. Dieses Werk des Geistes geht weiter und weder die Kirche noch irgendwer ist Besitzer, sondern wir sind alle vorübergehend Mitwirkende. Unsere VorgängerInnen, wie zum Beispiel Henri Dunant, Gründer des Roten Kreuzes, Pierre Cérésole, Initiator des Zivildienstes, oder Rosa Parks, die einem ungerechten Gesetz in den USA ungehorsam war, haben die Gesellschaft verändert und zur Verkörperung der Botschaft Christi beigetragen.

Noch ein Letztes möchte ich einbringen: überall werden Konflikt und Gewalt miteinander verwechselt. Jesus war dauernd in Konflikte verwickelt, das ist uns klar. Doch Jesus lebte Gewaltfreiheit. Auch wenn Konflikt und Gewalt sich nicht gegenseitig ausschliessen, so sind es doch zwei grundverschiedene Dinge. Konflikt bringt nicht zwingend Gewalt hervor, und Gewalt hat oft andere Ursachen, vorhergehende Gewalt, Habgier, Unterhaltung, oder einfache Stupidität. Es ist ein verheerendes Missverständnis, zu glauben, dass um Gewalt zu reduzieren, Konflikte vermieden werden müssten. Im Gegensatz zu Konflikt ist Gewalt aber vermeidbar. Es gilt, im Konflikt in Güte und Wahrheit zu bleiben.

Konflikt ist nicht das Gegenteil von Frieden, aber eher sein Vorgänger. Gewalt ist nicht die Fortsetzung von Konflikt, sondern sein destruktives Gegenstück. Das Gegenteil von Gewalt ist die Kraft der Güte und der Wahrheit. Wer Gewalt ausübt, verrät die Liebe. Doch Gott ist Liebe. Lanza del Vasto sagte: „Erst in einem Konflikt wird die Gütekraft erkennbar, nämlich wenn da, wo es natürlich oder berechtigt erscheinen mag, Gewalt anzuwenden, die Probleme gelöst werden, die sonst mit Gewalt angegangen werden“. Was Jesus zum nachfolgbaren Vorbild macht, ist nicht seine Sündlosigkeit, sondern seine Gewaltfreiheit, welche Güte und Wahrheit zum Tragen brachte. Das Geheimnis dazu liegt in der Echtheit und im Verwurzelt-sein als geliebtes und anerkanntes Geschöpf mit einem Auftrag.

Gewaltfreiheit lernen bedeutet, im Geist Christi, der Echtheit, Liebe und Barmherzigkeit Jesu verwurzelt zu werden. Die Aufgabe der Kirche ist es, diesen Lernprozess fördern, und Gewaltfreiheit und Versöhnung zu ihren Prioritäten zu machen. Hierin liegt die Herausforderung nach der Dekade. Glücklich die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben! Und: Selig sind die Frieden schaffen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden!

Predigt anlässlich der Sendungsfeier in der Kathedrale Lausanne, 5. Dezember 2010 für die Ökumenische Friedenskonvokation in Kingston, Jamaica

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